Die wilde Frau – Leseprobe

Die Macht des weiblichen Blutes

Das weite Land der Sexualität betreten Mädchen immer von der dunklen, der lichtabegewandten Seite des Lebens her. Es ist das Blut, das ihnen zuerst von den Zusammenhängen der Lust und der Gebärfähigkeit erzählt. Es ist das Ende der Kindheit.

Die Bedeutung der Vulva als Tor zum Paradies, als fleischlicher Eingang zum inneren Labyrinth erschließt sich erst jetzt. Daß sich die dunkle Höhle, aus der wir alle kommen, in die wir eines Tages alle zurückkehren, sich auch in ihrem Inneren befindet, daß sie gleichzeitig die dunkle Höhle und ihre Hüterin ist, erfährt die zukünftige junge Frau nun am eigenen Leib. Und das ist eine ganz besondere, eine schwierige Zeit.

Nun weiß sie, was es heißt, ein eigenartiges kosmisches Tier zu sein, das mit seinen inneren Organen, die die Form von Hörnern haben, in direktem Dialog mit dem Mond am Himmel steht. „Und dass das Blut. Die Krämpfe. Das Ziehen vorher. Die Anspannung. Das Aufstauen der Gefühle bis zum Feuerspucken“, wie Luisa Francia die Menstruation beschreibt. Das Mädchen weiß jetzt, das wird nun lange, lange Zeit so bleiben, jeden Monat neu. Und wenn der Fluß des Blutes sich in vierzig Jahren anschickt, zu versiegen, wird sie genauso erschrocken darauf reagieren wie jetzt, wo sie seine Ankunft zum erstenmal erlebt. Zu diesem Zeitpunkt ist es jedoch unerheblich, geradezu unvorstellbar, daß es einmal wieder eine Zeit ohne Blutungen geben wird.

Rechnet man ihre Geburt dazu, so macht sie zum zweitenmal in ihrem Leben, aber zum erstenmal bewußt die Erfahrung der Unausweichlichkeit, die sie später im Gebären weiterhin und in einer für sie unvorstellbaren Steigerung erleben wird. Als Kind lernte sie früher laufen und früher sprechen als die Buben. Ihr Sprachschatz war größer wie auch ihre gesamte Lernfähigkeit, dazu war sie körperlich ausdauerndern als die männlichen Kinder. Jetzt in den Zeiten des Blutes wird ihr klar, warum: Das Leben rüstete sie damit für Erfahrungen aus, die weitaus tiefgreifender sind als alles, was ein männlicher Mensch zwischen Tod und Geburt je erleben könnte. Die Erfahrung der Unausweichlichkeit macht reif, aber sie setzt eine große Belastbarkeit voraus, damit man ihr überhaupt gewachsen ist.

Es ist diese Erfahrung der Reife, die sie jetzt von ihren männlichen Spielkameraden trennt. Für eine Weile in ihrem Leben schwebt sie einsam und unerreichbar in einem Zwischenland, was ihr ganz seltsame Kräfte von spürbarer, unberechenbarer und manchmal sogar unkontrollierbarer Explosivität verleihen kann. In allen Kulturen ist dieser Zustand junger Mädchen bekannt. Für diesen Grenzübertritt ist das längere Verweilen im Zwischenland notwendig. Am Ende wird sie auf der Seite der Frauen angelangt sein. Sie wird sich so verändert haben, daß man sie kaum noch als Kind zu behandeln wagt.

Der Geruch von Blut wird sie ab jetzt ihr Leben lang daran erinnern, daß sie der Erde nah ist, ein Höhlenfrau trotz alledem. Sie kann sich windeln wie ein Super-Pampers-Baby, kann sich diskret tamponieren, kann sich lächelnd zusammenreißen unter der schick gekleideten, geschminkten Fassade einer vermeintlich vom Lauf der Gestirne befreiten Frau, es wird ihr nichts nützen: Sie ist die blutsverwandte Nachfahrin eines in Felle gekleideten Geschöpfes, das der Menschheit in grauen Vorzeiten das größte Geschenk gemacht hat, das es je gegeben hat: Bewußtheit.

Bewußtheit entsteht, wenn Außergewöhnliches sich regelmäßig zu wiederholen beginnt. Was hat man sich nicht die Köpfe zerbrochen, wie der Unterschied zwischen Mensch und Tier definiert werden könnte. Zu den noch interessantesten Definitionen gehören die Fähigkeiten zu lachen und zu lügen. Nichts von dem, was man bemühte, war jedoch geeignet, Menschsein umfassend zu definieren. Wie denn auch, es waren Männerköpfe, die sich da zerbrachen. Dabei lag es auf der Hand: Es ist schlicht und einfach der monatliche menstruelle Zyklus, und verbunden damit die Befreiung von den durch Östrogenschüben gesteuerten Brunftzeiten. Der Monatszyklus machte die Frau frei vom Diktat der Hormone, die sie zweimal jährlich in ein Wesen verwandelt hätten, das nicht mehr es selber gewesen wäre. Frei auch vom Diktat der Fortpflanzung, der Mutterschaft, der sie ausgesetzt gewesen wären, ob sie gewollt hätten oder nicht. Lilith, der ersten Frau, wurde mit dem monatlichen Blut der Freiheit des Willens geschenkt.

Irgendwann saß unsere Ur-Mutter und schaute zum Himmel auf. Irgendwann schaute sie nachdenklich auf das Blut zwischen ihren Beinen, und irgendwann muß ihr dank der Wiederholung des Außergewöhnlichen ein Licht aufgegangen sein. Ich glaube, das war ein großer Augenblick, dem in späteren Zeiten viele Männer nachstrebten in dem Wunsch nach Wissen, Erkenntnis, Erleuchtung und Begegnung mit dem Göttlichen.

Unsere Ur-Mutter war dem Göttlichen begegnet und konnte daraufhin im Äußeren wie im Inneren die Gesetze des Lebens entdecken und an uns, ihre Kinder, weitergeben. Sie hatte die Verbindung zum Göttlichen gefunden und war damit einer ihrer wesentlichsten Aufgaben begegnet: der Religion.

Die Farbe Rot wurde damit eine heilige Farbe, und die Toten wurdem mit Ocker rot bemalt, bevor sie in Embryohaltung in den Schoß der Mutter Erde zurückgelegt wurden. Das Weibliche wurde geehrt für die Fähigkeit, monatlich eine große Menge Blut zu verlieren, ohne daran sterben zu müssen; einem Wunder, das noch vor dem Wunder des Gebärens kam. Das Blut hatte magische Kraft. Es konnte Kräfte wecken oder bannen. In den Gesellschaften und Kulturen, bei denen die Macht des weiblichen Blutes galt, wurde niemals das Blut geschlachteter Tiere oder gar Menschen zu Ehren der Göttlichkeit vergossen. Dieses Blut hatte seinen Platz im Körper, hatte diesen zu beleben. Auf einem Alter vergossen, wäre es ein widernatürliches Sinnbild gewesen. Das hätte der Großen Mutter gewiß nicht gefallen. Nicht das Blut des Todes, sondern das Blut des Lebens mußte es sein, mit dem das Leben gefeiert wurde.

Unter den dazugehörigen Symbolen ist die herausgestreckte rote Zunge besonders erwähnenswert, die in den alten Zeiten der Mütter nicht als ein obszönes Zeichen galt, sondern galt als Ausdruck des sacer mens, des geheiligten Blutes. Auch der Granatapfel gehört zu dieser Art Macht, ebenso wie das Schwein und die ursprünglich nicht bunten, sondern nur roten Ostereier, Ostera war ein Mondgöttin, deren Riten im Frühjahr gefeiert wurden. Wo immer wir der Farbe Rot im Zusammenhang mit Zeremonien, Ritualen und Feiern begegnen, wann immer die Farbe Rot im Zentrum der Macht auftauchte, ist einstmals das sacer mens im Zusammenhang gestanden: bei dem ausgerollten roten Teppich, bei den Krönungsmänteln von Königinnen und Königen. Und so mancher ältere Herr ahnt vielleicht gar nicht, welch komische Figur er abgibt, wenn er symbolisch in Frauenblut gebadet als Kardinal ganz in Rot vor die Gläubigen hintritt.

In den Zeiten des Blutes zog die Frau sich zurück. Sie zog alle Energie zu sich heran und verbrauchte sie für sich selbst. Nun hatte sie nichts mehr zu geben. Sie sagte NEIN und verwandelte sich in die dreiköpfige Gorgo. Aus ihrem Munde fielen Kröten, Schlangen und Skorpione. Umgeben von einer Aura von Blitzen wandte sie sich einer Macht zu, die tief in ihrem Bauch geboren war, und man näherte sich ihr dann nicht mit Alltäglichkeit. Da waren nicht viele, die die Nähe einer solchen Frau vertrugen.