Es ist unübersehbar, das System, also die ganz reale Struktur unseres familiären, lokalen, nationalen und globalen Zusammenlebens inklusive seiner geistigen, sozialen und emotionalen Ordnung kracht an seinen Schwachstellen gerade gewaltig zusammen. Und zwar genau so, dass niemand sagen kann: hab ichs nicht gesagt? Jede und Jeder, ob ein einzelnes Individuum, eine Institution, ein Berufsstand, sozialer Zusammenschluss, Interessengemeinschaft oder Machtzentrale bekommt gerade vorgeführt, dass das jeweilige Weltbild, die jeweilige Ideologie, Überzeugung, Erfahrung, Kenntnis, Wissen, Ansicht und der dazugehörige Horizont nicht mehr passen, dass auch das Gegenteil wahr ist und niemand sich auf seinem Platzerl ausruhen kann.
Würden wir den ganzen Schlamassel von einer höheren Position aus betrachten, müssten wir sagen: War gar nicht so schwer.
Und dabei ist die Sache ja noch längst nicht ausgestanden.
Aber offenbar weit genug gegangen, so dass viele, wahrlich viele damit beschäftigt sind, darüber zu schwadronieren, was und in welche Richtung sich in der Zukunft dringend etwas ändern muss, damit man sagen kann, wir hätten aus dieser Krise gelernt.
Natürlich ist viel von der Klima-Krise die Rede. Wann, wenn nicht jetzt, sagen diejenigen, die in dieser Mission unterwegs sind.
Andere wollen jetzt endlich das bedingungslose Grundeinkommen durchziehen. Auch sie sind von „wann, wenn nicht jetzt“ durchdrungen.
Ich sage: wir können zu jedem anderen Zeitpunkt gern wieder in die Debatte einsteigen. Aber ganz sicher nicht jetzt.
Jetzt haben wir andere Sorgen.
Die haben, mal abgesehen davon, darauf zu achten, uns nicht zu infizieren und den Tod von Menschen zu riskieren, vor allem damit zu tun, erst einmal überhaupt zu begreifen, was da mit uns geschieht. Noch bevor wir überhaupt einmal dort angekommen sind, wohin es uns vor vier Wochen hinkatapultiert hat, wollen alle nun schon mal die Zukunft planen. Wobei die Zukunft darin besteht, ihre jeweiligen Interessen jetzt mit Volldampf durchzudrücken.
Wir sind nicht in diesem rasenden Stillstand angekommen, um gleich wieder herumzuzappeln und äktschn zu machen!
Seid doch erstmal still! Kommt doch endlich mal in der Leere an. Nehmt doch einfach mal wahr, wie anstrengend es ist, sich um Kinder zu kümmern. Seid einsam! Seid erschrocken! Seid traurig. Nehmt doch mal wahr, wie angstvoll man ist in einer Welt, in der nichts mehr sicher ist! Spürt doch mal, wo euch euer Mitgefühl hin verschwunden ist, bei euch ist es jedenfalls nicht mehr. Warum hat es euch also eigentlich verlassen und wann? Lernt doch mal die Langeweile kennen. Und vor allem die Person, vor der ihr euch am meisten in den letzten Jahren gefürchtet habt: euch selbst. Startet doch einfach mal den Versuch, euch selbst auszuhalten und zu ertragen. Andere Leute mussten bisher mit dir klarkommen. Probiere doch mal, ob du das auch kannst.
Und dann?
Stelle diese Frage bitte nicht zu früh. Und dann, und dann.
Es handelt sich augenblicklich um eine Transformation, durch die du durchgehst. Das Ungewöhnliche daran ist, dass wir alle gleichzeitig hindurchmüssen. Der Umstand der Transformation ist das, was wir gemeinsam haben. Wie sie sich zeigt und was alles auf den Kopf gestellt und durcheinandergewirbelt wird, ist individuell anders. Wenn wir die Summe aller Transformationen aller Individuen auf der Welt zusammengezählt haben, werden wir wissen, wie es weitergeht. Deine Träume von Delfinen in den Kanälen von Venedig hat man dann durchaus mit eingerechnet. Aber auch die Erfahrungen von den 7,5 Milliarden anderen Leuten, die da involviert sind. Was dabei herauskommen wird? Das können wir nicht wissen. Europa mag das Epizentrum der Corona-Krise sein. Es ist aber nicht der Mittelpunkt der Welt.
Was hoffentlich nicht nur mich dahin bringt, auch an die zu denken, die gestorben sind und noch am Virus sterben werden. Die, die keine Träume mehr haben können. Wir können die Zukunft nicht planen, ohne an sie zu denken. Wir müssen ihre Tode beweinen und betrauern. Heute las ich von einer 28jährigen Krankenschwester in Großbritannien, die hochschwanger an Covid 19 gestorben ist. Ihr Baby ist lebend zur Welt gekommen. Es wird seine Mutter, die im Kampf um das Leben anderer Menschen gestorben ist, nie kennenlernen.
Wir können nicht Bilder von der Zukunft entwerfen und davon schwadronieren, was sich aus der Krise lernen ließe und welche Chancen sie doch bietet und diese Menschen einfach nur statistische Zahlen sein lassen. Das ist obszön.
Halte also inne.
Es mag schwer sein, das Zusammenkrachen mitzubekommen und zu fürchten, dass die Trümmer uns begraben werden. Aber wisse, augenblicklich sind deine Erwartungen, Hoffnungen und Pläne von der Zukunft nichts anderes als der Versuch, deine alten Überzeugungen, Interessen und Ideologien zu retten und neu zu etablieren.
Du hast, genau wie wir alle, nicht die geringste Ahnung, was sein wird.
So super geschrieben, wie immer. Du hältst der/dem Leserin/Leser ordentlich den Spiegel vor die Nase!! Eigentlich viel zu wichtig und schade, dass nur wir im Abo das lesen können… herzlichen Gruß Doris
Kristallklare Punktlandung in Herz und Hirn: Danke fürs verpflichtend-herausfordernde „Ent- dannen“ und das Zurückholen ins Jetzt!