Der weise Leichtsinn – Leseprobe

Der weise Leichtsinn

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr

Wenn man vierzig ist, dann macht man sich Sorgen, ob es nicht für so viele Dinge, die man noch tun wollte, vielleicht viel zu spät ist. Ein paar Jahre später hat man diese Sorge nicht mehr. Dann ist es zu spät.

Dieser auf den ersten Blick bedauerlich erscheinende Umstand mag Traurigkeit und Depression zur Folge haben. Das ist allerdings, wenn diese Empfindungen nicht nach einiger Zeit wieder nachlassen, ein Anzeichen für eine diesem Alter nicht angemessene Unreife und beruht auf dem Mißverständnis, man könne dasein ohne zu leben. Eine Krise ist das nicht. Eine Krise hat man mit Vierzig. Die Alterskrise, die uns um die Vierzig erwischt hatte, war ernstzunehmend und beruhte keineswegs auf der verletzten Eitelkeit einer auf Jugend und äußerliche Attraktivität fixierten Frau, sondern ist als Ausdruck einer natürlichen Katharsis zu verstehen. Die Furcht, gewogen und für zu leicht befunden zu werden, ist für die Vierziger nicht ganz unberechtigt, vor allem aber nicht unbegründet.

Die Siebenjahresphase von 35 bis 42 ist nun einmal eine Zeit der Abrechnung, so wie jeder einzelne der vorhergegangenenen Siebenjahresabschnitte unseres Lebens einem bestimmten Zweck, bestimmten Erfahrungen und bestimmten Aufgaben gedient hat.

1. In den ersten sieben Jahren werden wir ein Menschlein. Es sollte eine Zeit der Verheißung sein, denn in uns allen kam er nicht zum Vorschein. Er wurde erstickt, verlacht und manchmal hingemordet. Die Ursache dafür gehört zu einem anderen Thema, das ich hier an dieser Stelle in der ihm gebührenden Tiefe nicht erörtern kann.Wenigstens ist es manchen von uns gelungen, den Glanz und das Strahlen, das uns in diesen ersten Jahren umgab, in das weitere Leben zu retten.

2. Die Zeit von sieben bis vierzehn Jahren diente ursprünglich – in der Zeit, als der Mensch noch artgerecht lebte – dem Erlernen aller Überlebensfähigkeiten und der Einübung der Geschlechterrolle.

3. In der nächsten Phase, dem Alter von vierzehn bis 21, werden wir mit den Regeln, Sitten und Gebräuchen unserer Welt bekannt gemacht. Wenn wir Glück haben, können wir uns einen Platz in dieser Welt aussuchen, ihn ausprobieren, vielleicht sogar die Fülle des gesamten Angebotes prüfen. Haben wir dieses Glück nicht, so ist dies die Zeit, uns an den uns zugewiesenen Platz zu gewöhnen. In diesen Jahren spielen die Hormone mit uns, und wir fliegen durch sexuelle Liebeswelten, um uns auch auf dieser Seite der Welt auszukennen.

Auch in diesen beiden Phasen können wir zerbrechen und unsere Aufgabe verfehlen. In der Zeit, in der alle Menschen für uns Lebenslehrer sind, können wir von diesen mißbraucht, mißhandelt und mißachtet werden oder uns die Aufregung und das Glück durch Drogen holen, weil uns der natürliche Weg zur Ekstase zu unbequem oder zu bedrohlich erscheint, um nur einige wenige der vielen Möglichkeiten aufzuzählen.

4. Die Zeit von 21 bis 28 Jahren dient der Etablierung in der Welt. Ausbildungen werden gemacht, Entscheidungen getroffen, ob man eine Familie will, eine Karriere oder beides. Man legt sich fest, in welchen sozialen Bezügen man leben will und entscheidet sich, was dazugehört, um auf die richtige Weise zu leben, um sich für einen guten Menschen mit den richtigen Ansichten zu halten. In dieser Zeit wird die von uns ausgewählte Bühne betreten, auf der unser Leben sich entfalten soll. Das Stück hat begonnen, ja, in diesem Alter sind wir schon mittendrin. Wir spielen Beziehung haben, Eltern sein, gestreßte Aufsteigerin und verzweifelte Versagerin, und was es sonst noch so an Rollenangeboten gibt. Wir spielen ernste Spiele in dieser Zeit, selbst lustig und ausgelassen sind wir nicht zu unserem Vergnügen, sondern weil wir unbedingt ernstgenommen werden wollen. Denn wir sind nun keine Kindern mehr, und es liegt uns sehr viel daran, daß die anderen das bemerken.

5. Dieser Phase folgen die Jahre bis 35, und an denen ist etwas ganz Besonderes. In dieser Zeit erhalten wir die Antwort des Lebens auf das Spiel, daß wir zu spielen begonnen haben. Das ist, als gäbe es im Theater des Lebens ein Publikum, das den weiteren Verlauf des Stückes mitentscheiden kann. Du wolltest erfolgreich im Beruf sein? Dann wirst du jetzt den Erfolg bekommen. Du wolltest alles auf einmal? Da hast du es. Die Familienidylle schien der richtige Weg? Hier entlang bitte. Was immer es auch war, man wird bis über beide Ohren in das hineingezogen, was man sich selbst eingebrockt hat. Dies ist die Zeit, in der man sich mitten im Wald befindet, von dem ich im Vorwort gesprochen habe. Unterhalb des Alltagsbewußtseins mag sich hin und wieder leise erspüren lassen, daß das nicht alles sein kann, und manchmal schleichen sich Ahnungen ein, daß die ganze Sache einen doppelten Boden hat. Aber das vergeht wieder, und man rennt weiter mit.

6. Wenn dann die nächsten sieben Jahre, die bis zum 42. Jahr gehen, kommen, tut sich der Boden auf und wir sehen, es war tatsächlich ein doppelter. Vollkommen inhuman, das heißt ohne daß wir die Möglichkeit haben, zu argumentieren, recht zu behalten, Dinge zu verdrehen und zu verleugnen, was doch offensichtlich ist, haut uns das Leben um die Ohren, was wir vernachlässigt, mißachtet und für unwesentlich erklärt haben. Jetzt zahlen wir den Preis für die Realisierung unserer bisherigen Lebensziele und Taten. In diesen Jahren drängt sich uns die Erkenntnis auf, daß auch wir der Endlichkeit und dem Tod nicht entkommen. Und als ob das Entsetzten und die Trauer darüber nicht schon genug wären, zerplatzen jetzt die Lebenslügen, und alle unsere Charaktermasken fallen uns vom Gesicht. Wer sein Leben lang so getan hat, als hätte er keine Angst, wird jetzt von Furcht und Panik überrollt werden. Wer schlecht mit Geld umgegangen ist, dem wird jetzt die Lektion erteilt, daß das Spiel mit der eigenen Existenz schiefgeht. Wer sein mickriges Selbst hinter einem arroganten und furchteinflößenden Ich verborgen hat, wird sich in Situationen wiederfinden, die zeigen, wie sehr alle anderen sich in die ganzen Jahre über nicht täuschen ließen und dieses mickrige Selbst in aller Klarheit sehr wohl gesehen haben. Wer sich hauptsächlich auf die Karriere konzentriert hat, kriegt jetzt Probleme auf dem Liebessektor. Wer nur Heim und Familie vor Augen hatte, findet sich vielleicht ausgesetzt und ungeschützt im Freien wieder. Für jeden Menschen ist es das, was er am wenigsten erwartet hat, was er am wenigsten bedacht hat, wogegen man sich am wenigsten geschützt weiß. Man wird an einem Ort erwischt, wo man am weitesten von einer authentischen Identität entfernt ist.

7. Manchmal erscheint einem in diesen Jahren das Leben so bitter, weil man eben glaubt, es gäbe keine Möglichkeit mehr zur Korrektur. Jedoch die kriegt man. Die Jahre, bis man 49 wird, sind die Jahre der Gnade und der Lebensfreude, falls man in der Phase davor seine Hausaufgaben gemacht hat. Hat man sie nicht gemacht, schaut die Sache nicht so gut aus. In den vergangenen Jahren sind mir in meiner Praxis viele Frauen begegenet, die auch über die Fünfziger hinaus versucht haben, Leben durch Dasein zu ersetzen und die geglaubt hatten, dadurch ungeschoren davonzukommen. Sie alle standen in ihrem fortgeschrittenen Alter erschrocken und tief deprimiert vor der kalten Einsamkeit und Leere ihrer Zukunft. Manche von ihnen waren verwitwet, manche von ihren Männern verlassen, und die anderen lebten in einer toten Ehe. Alle hatten Mann und Kinder über Jahrzehnte perfekt versorgt. Sie wurden dann nicht mehr gebraucht und mußten nun feststellen, daß dieses Gebrauchtwerden ein trügerischer Sinn des Lebens gewesen war, und daß sie nichts hatten, was an dessen Stelle hätte treten können. Über die Traurigkeit ihrer Situation hinaus war für mich das Bestürzendste, daß beinahe alle diese Frauen allen anderen sehr böse waren, weil diese sie in eine solche Situation gebracht hatten. Sie hatten für alle und alles vorgesorgt, nur für dieses eine nicht: eigenen Lebensinhalt. Das konnte ihnen die Seidenmalerei, der Töpferkursus für Hausfrauen oder der Vorsitz im Kulturverein auch nicht verschaffen.

Dies ist die Situation, die ich meine, wenn ich davon spreche, daß es für viele Dinge zu spät ist, wenn ein Frau vor dem letzten Lebensdrittel steht. Es kann nicht sein, daß wir vom Leben erwarten, daß es uns wie eine gute, gütige Mutter mit allem verschont, was unter die Kategorie Konsequenz und Selbstverantwortung fällt.