Körper, Seele und Geist in Flammen
Die Rückeroberung des eigenen Körpers ist der Beginn einer ganz besonderen Liebesgeschichte. Diese Geschichte erlebst du zuerst mit dir selbst und dann mit dem ganzen Leben, oder du erlebst keine wirkliche Liebe im Leben. Niemals wirst du im Außen finden, was dir im Inneren fehlt – wenn du kein Liebe fühlen kannst, wird sie dir auch nicht begegnen. Dies gilt auch umgekehrt. Wenn sie dir nicht begegnet, liegt es daran, daß wir viel Aufwand betreiben, um geliebt zu werden, aber wenig Aufmerksamkeit darauf verwenden, liebesfähig zu werden.
Eine Frau die liebt, steht in Flammen. Sie leuchtet und strahlt, und ihr ganzes Sein ist davon erfasst – Körper, Seele und Geist. Nicht jede mag sich in dem Bild von den Flammen wiederfinden. Einer anderen erscheint dieser Zustand vielleicht wie ein sprudelndes, sprühendes Bad im Meer. Noch eine andere erlebt ihn als glückseligen, vom Wind getragenen Flug durch die Luft oder als die Weite, die eine lange Wanderung über die Erde mit sich bringt. Das, was eine spürt, wenn sie liebt, ist der sogenannte Flow-Zustand – so wunderbar kann kein Gefühl der Welt sein, daß es nicht einen wissenschaftlichen Ausdruck dafür gibt.
Der Flow-Zustand ist eine Art Ganzheitsgefühl. “Dieser Zustand zeichnet sich dadurch aus, daß Handlung auf Handlung folgt, ohne daß die Handelnde dabei bewußt eingreifen müßte. Dabei ist kaum eine Trennung zwischen ihr und der Umwelt, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu spüren.” So beschreibt Verena Kast diese kreative Lebensenergie. Sie ist nicht ganz mit der Verliebtheit zu vergleichen, die eher ein besonderer Ausnahmezustand großer Erwartung ist. Flow ist lichterlohes Bewußtsein. Die Energie fließt frei und ungehindert. Nichts blockiert sie, nirgendwo wird sie gestaut und zurückgehalten. Der Puls kann leicht erhöht sein. Eine spürt ihr Herz klopfen, der Atem geht tiefer, und die Verbundenheit mit der ganzen Welt wird als ein Art Beschwingung erfahren. In so einem Zustand werden große Werke geschaffen, Erleuchtungen erlebt, Töne getroffen, Bücher geschrieben, die wahren und echten Feste des Lebens zelebriert und gefeiert, wahrhaft geliebt und gelebt.
Dieses Gefühl hat derart großen Einfluß auf unser körperliches Befinden, daß sein Vorhandensein oder Fehlen mit der Zeit bestimmt, wie wir aussehen, welche Gestalt wir annehmen. Der Einfluß wirkt über die Motilität. Mit Motilität wird eine hochsensible Verbindungsbewegung zwischen Körper und Gefühl bezeichnet.
“Der Mensch besteht aus vielen Schichten: Haut, Sehnen, Muskulatur, Knochen, Organen, Flüssigkeiten. In einem kontinuierlichen Bewegungsmuster dehnt sich die Haut aus und zieht sich wieder zusammen. In einer Symphonie von Anpassungen ändern die Skelettmuskeln ihre Gestalt, um die Aufrechte beibehalten zu können. Im Wechsel der Druckverhältnisse schrumpfen die Knochen und dehnen sich aus. Organe sind eine dynamische Welle peristaltischen An- und Abflutens. Die Körperflüssigkeiten werden durch die Flexibilität der organismischen Pumpen vorangetrieben. Wir schwimmen im Strom einer Umgebung, die wir erschaffen. Wir erweitern uns, sammeln uns und dehnen uns erneut aus; so ist Motilität, innere Beweglichkeit zu verstehen. Sie ist ein innerer Fluß, der sich von den willkürlichen Bewegungen unterscheidet.” (S. Keleman, “Verkörperte Gefühle”)
Je nachdem, wie sehr wir nun Gelegenheit haben, in Berührung mit unserer kreativen Lebensenergie zu kommen, wird dieser innere Fluß fließen oder nicht.
Der Volksglaube, daß schöne Menschen auch glückliche Menschen sein müssen, rührt möglicherweise daher, daß wir unbewußt Kenntnis davon haben, wie einflußreich Gefühle auf das Werden unserer Gestalt sind. So sind wir wohl dazu gekommen, Menschen mit symmetrischer, ebenmäßiger Erscheinung zu verehren und vom Äußeren auf ihr Inneres zu schließen. Oder – falls wir zu den eher neidischen ZeitgenossenInnen gehören – zu hoffen, daß sie wenigstens dumm oder doof sind, wenn sie schon schön sind.
Tatsache ist, daß unabhängig von der äußeren Erscheinung ein glücklicher, liebender Mensch stets als schön empfunden wird. Dieses Glück ist nicht von äußeren Faktoren abhängig, sondern eine Frage des Flow-Zustandes. In diesem kann sich eine erst befinden, wenn sie nicht in ihrem Lebensausdruck gehindert wird, so daß die Motilität ungehindert ihren eigenen, natürlichen Abläufen folgen kann.
Die Masche mit dem positiven Denken ist ein kläglicher Versuch, per Willen und dazu ziemlich eindimensional künstlich zu erreichen, was nur auf natürlichem Wege entstehen kann. Wohl kann eine denken: “Es geht mir täglich besser und besser”, aber erstens bedeutet das, daß es ihr jetzt offenbar nicht so gut geht, was der positiven Wirkung entgegensteht, und zweitens hält die Wohltat nur so lange an, wie die Affirmation benötigt, gedacht oder gesagt zu werden. Die Künstlichkeit der Manipulation von außen ist die Grenze der Machbarkeit jeder Form von Therapie, insbesondere jeder Körpertherapie. Nichts wird damit wirklich dauerhaft in Fluss gebracht, denn die Staus und Blockierungen lassen sich auf diesem Weg nicht aufheben. Sie haben ihre Ursachen in den gesellschaftlichen und politschen Umständen des Patriarchats.
Das bedeutet nicht, daß sie nur auf der politschen oder gesellschaftlichen Ebene aufgehoben werden können. Im Bereich des menschlichen Bewußtseins läßt sich da viel machen. Von der Lösung der Lebensenergie im einzelnen Menschen ausgehend läßt sich durchaus eine Umkehrung der gesellshaftlichen Liebesströme erreichen. Da ist nicht nur für diejenigen wichtig, die glauben, daß private Befindlichkeiten und Heilspraktiken nichts mit politischer Arbeit zu tun haben, sondern es ist auch ein Hinweis für die Therapie-Hopper, im wirklichen Leben anzukommen, sonst werden keine wirklichen Wandlungsenergien freigesetzt, das heißt neue Wirklichkeiten geschaffen.
Die den Zyklen ihres Lebens folgende Frau läßt es fließen. Sie macht damit Gebrauch von ihrem gesamten Liebespotenzial, indem sie allem seine Zeit gibt und sich erlaubt, alles sinnlich zu erfahren, was es zu erfahren gibt, anstatt zuverlässig und regelmäßig antizyklisch nach ungeprüften Vorgaben zu funktionieren, wie man es von ihr erwartet, weil Liebesleben im Patriarchat sich nun einmal so abspielt. Es ist ebensowenig möglich, immerzu glücklich zu sein, wie es unmöglich ist, immer geil zu sein, aber es ist möglich, immerzu im Flow-Zustand zu sein. Er kennt Höhen und Tiefen, Freude und Schmerz, Beginn und Abschied. Das alles ändert nichts am lichterlohen Bewußtsein. Es könnte sogar sein, daß alle Empfindungen tiefer gehen, als eine für möglich hält, und doch überlebt sie es leicht.
Das Geheimnis besteht darin, daß alles seine Zeit hat. Die Zyklen unseres Lebens entrollen sich in wiederholbarer und doch unwiederbringlicher Einmaligkeit. Jede Drehung ist also gleich und gleichzeitig anders. Frei fließende Liebe ist sich in aller Intensität jeden Stadiums der Entwicklung bewußt und wird kein Stadium überspringen, vermeiden oder beschleunigen wollen, nur um schneller ans Ziel zu kommen, denn Ziele gibt es in der Liebe nur für Spermien und ihre Träger.
Es gibt Verlangen, Begehren, Bedürftigkeit. Diese Gefühle drängen, kreative Liebesenergie will in eine ganz bestimmte Richtung fließen, die am besten mit Nähe, Berührung und Verbindung umschrieben ist und danach des Loslassens bedarf, um dem Rhythmus des Lebens zu folgen. Wenn statt des Loslassens das Streben nach eigener Auflösung entsteht und Wünsche nach Einssein auftauchen, können wir sicher sein, daß wir zu einer Symbiose unterwegs sind; ein höchst bedenklicher Zustand für alle, die älter als drei Jahre sind. Wann immer es also darum geht, ein Herz und eine Seele zu werden, ist höchstes Mißtrauen angebracht, denn der Ausstieg aus einmal eingegangenen Symbiosen ist langwierig und schmerzhaft.
Eine entflammte Frau ist sich dessen bewußt, daß der Augenblick des Entstehens von Verzauberung, Verlangen und Begehren genauso ausgekostet werden muß wie der Moment der Berührung, denn wenn die Berührung endlich da ist, wird der Augenblick des Entflammens nie mehr zu erleben sein. Jede Liebesbegegnung – und hier spielt die sexuelle Bewegung bewußt nur eine Rolle unter vielen – ist von eigener Einmaligkeit. Jede Phase der Begegnung ist gleich wichtig.
Wenn wir unsere Gefühle auf einen anderen Bereich verlagern, sagen wir, auf Lust auf einen Capuccino, dann wird die Sache beispielhaft klar. Ich kann in meinem Durst nach der Tasse greifen und erleichtert das Gemisch aus Kaffee und Milch hinuntergulpen und – ahh – fertig. Wenn ich aber im Bewußtsein meines Begehrens die feingeschlagene Milch betrachte, ein wenig daran rieche; langsam den Schaum verkoste und dabei von der zarten Schokolade schmecke, bevor ich den ersten Schluck riskiere, der so schmeckt wie keiner, der nach ihm kommt, dann habe ich nicht nur den Capuccino und meinen Durst wirklich wahrgenommen, sondern sinnlich geehrt.
“Vielleicht empfiehlt es sich, dem schäumenden Becher so langsam die Ehre anzutun, daß man es sich auch leisten kann”, schrieb Djuna Barnes in ihrem “Ladies Almanach” und meinte damit keineswegs einen Becher Kaffee.
Der Unterschied zu den funktionalierten Beziehungen patriarchaler Machart besteht exakt in dem freien Fluß der Lebensenergie, der nicht aufgehalten und blockiert wird und dadurch ganz von selbst den zyklischen Entwicklungen folgt. Dieser Idealfall ist wahrscheinlich keiner von uns möglich, die wir in patriarchale Lebensumstände hineingeboren wurden. Lebensumstände, welche uns mannigfaltige Blockierungen unseres Lebensausdrucks bescherten, bevor wir noch sprechen konnten. Erwachsen geworden stehen wir vor der Aufgabe, zu befreien und zu lösen, was begrenzt und eigeengt wurde, damit es endlich oder wieder fließen kann.